Ben Rhydding, Montag (Brief): KAH in München

Ben Rhydding, den 6. April 1931.
Lieber Herr Hartmann!
Endlich habe ich wieder einmal Freiheit im Schreiben, das ist auch der Grund, warum ich meine Osterwünsche so weit hinausschob. Sie sind aber deshalb trotzdem so herzlich gemeint, als ich sie nur wünschen kann. Sagen Sie bitte auch Ihrer Frau Mutter und Brüdern meine frohsten Wünsche, doch sende ich Ihnen ganz besonders innige Ostern nach Deutschland hinüber. Für Ihren lieben Brief herzlichen Dank. Es freut mich, daß Sie mit Ihrer Kunst so viel zu tun haben, Arbeit hilft über schwere Stunden und trübe Gedanken am besten weg. Besonders neues schöpfen in Musik! Wie Sie ja schon hörten bin ich während der Osterferien in Mittelengland bei einer reizenden Familie. Ich fühle mich hier restlos glücklich und freue mich besonders über die neugewonnene Freiheit. Seit langer Zeit, seit fast 7 Monaten kann ich wieder einmal tun was ich will. Das soll aber nicht heißen, daß ich nicht gern im Convent bin, ich sehe vollkommen ein, daß in einem Institut, wo so viele Mädels sind, eine bestimmte Tagesordnung eingehalten werden muß. Uns Ausländerinnen ist sowieso viel mehr Freiheit gegeben und ich tue oft etwas ohne zu fragen, was sich kein englisches Mädel erlauben dürfte. Aber doch fühle ich manchmal den Zwang. Ich hätte vor Freude hüpfen können, als ich allein im Zuge hierher war. Hier ist es herrlich. Ich bin auf dem Land, auf London hin ein unschätzbares Vergnügen. Es ist hier herrliche Luft, und Hügelland. Wunderbare Gelegenheit zu Spaziergängen und es macht mir größtes Vergnügen zwischen den Felsblöcken herumzusteigen oder auf den Waldwegen zu gehen. Eben höre ich durch das Radio, Martha an, aus Heidelberg. Das Radio hier ist für mich hier eine andere Freude, ich höre viel Deutschland, heute hörte ich sogar schon München, die Meistersinger. Es ist eine Erholung deutsche Musik zu hören, englische ist nämlich miserabel schlecht. Sogar die große Oper ist nichts wert. Wenn Sie das hörten, würden Sie wohl über die deutsche Musik nicht so scharf kritisieren. Ich habe eine Bitte. Bitte schreiben Sie nicht, „München schläft weiter“ ich weiß wie es gemeint ist, doch die Engländer haben große Achtung vor deutscher Musik und ich möchte nicht, daß uns das auch noch genommen wird. Sie sind doch nicht bös, wenn ich Sie darum bitte? Ich mußte mich hier an recht viel gewöhnen und muß oft und oft etwas gegen Deutschland hören und lesen. Das tut manchmal weh. Je länger ich hier bin, desto lieber mag ich mein Vaterland und desto weniger mag ich die Engländer. Der Deutsche ist in jeglicher Hinsicht edler und feiner und auch jetzt noch ein gesünderes Volk. Erst im Ausland kann man seine guten Seiten richtig erkennen und man fühlt da erst wie sehr man an seinem Vaterland hängt. Das Schlimmste ist, daß man sich in englischer Sprache nicht verteidigen kann und immer ruhig sein muß. Doch jetzt genug von dem. Es sind nur noch 4½ Monate bis zu meiner Heimreise und hoffe und freue mich aufrichtig auf ein fröhliches Wiedersehen. Bitte machen Sie ja keine Bemerkung über alles was ich schrieb, es ist zu ekelhaft, daß uns alles gelesen wird. Doch konnte ich wenigstens einmal ehrlich schreiben was ich meinte. Meine Prüfung rückt immer näher heran, nächstes term muß ich richtig ochsen, halten Sie mir bitte den Daumen, daß ich nicht durchfliege. Die Schwestern sind hier alle eine netter wie die andere und tun alles um den Ausländerinnen ein Heim zu ersetzen. Das Wetter ist z. z. verhältnismäßig kalt und bei meiner Reise hierher regnete es stark so, daß die englische Landschaft ziemlich düster aussah. Jetzt muß ich schließen. Eben höre ich eine schöne Sonate von Schubert. O, Musik! Recht herzlich grüßt Sie, Ihre auf baldige Antwort wartende Elisabeth Reußmann
Bitte, schicken Sie Ihren Brief nach London.