Schweiz, Montag (Brief): E.H. in München

Schweiz, 12. Okt 36.
Meine liebe Elisabeth!
Endlich komme ich dazu Dir genauer zu schreiben. Also am Freitag war ich den ganzen Tag bei Scherchen in Talwill. Mein „symphonisches Fragment“ findet Scherchen ganz ausgezeichnet. Mein Weg in menschlicher wie in künstlerischer Hinsicht geht gleichmäßig und stetig vorwärts. Er findet meinen Stil äußerst stark und persönlich und (was mir wichtig ist) von mir allein – und nichts gestohlen von anderen! Über meine Melodiebildung wollte er wissen, wie ich dies arbeite – wie ich diese konstruiere – aber leider ich konnte ihm nichts sagen – ich weiß es selbst nicht; denn jetzt beginnt bei mir, das ausbreiten in eine Welt, wo nur wenige hinkommen – (meint Scherchen).
Nachmittags haben wir 4 Stunden (von 2 h – 6 h) gearbeitet, da habe ich dann einen Vortrag bekommen, was ich beim Komponieren alles noch berücksichtigen soll. Da habe ich enorm viel gelernt.
Herr Büchtger hat an Scherchen geschrieben und hat sein neues Orchesterwerk (Kammerorchester) angeboten. Scherchen frug mich ob ich Büchtger für ein Talent halte, darauf ich antwortete, daß ich Büchtger für völlig untalentiert halte – darauf Scherchen mir sagte, daß er die gleiche Meinung habe. Scherchen an Büchtger:
„Sehr verehrter Herr Büchtger!
Ich danke Ihnen für Ihre Zeilen. Ich interes[s]iere mich für Ihr Werk. Schreiben Sie mir bitte etwas von Ihnen – was Sie tun und was Sie denken – aber ehrlich muß es sein
Ihr Scherchen.“
Ich bin neugierig auf die Antwort. –
Für Baden-Baden [schreibe] ich Dir einen Brief – senden [sic] ihn bitte weiter. Die Partitur geht bald ab.
Für Paris habe ich viel Aussicht. Ich schreibe nochmals einen Brief an Osterc. An den Brief schreib[t] auch Scherchen. Überhaupt Scherchen ist, wie auch seine Frau äußerst reizend.
Erzähle niemand von Baden-Baden erst wenn angenommen (auch Deine[n] Eltern nicht) Der Verlag hat nicht mehr Fräulein Escher sondern Madame Badaux, aber das passt mir nicht – da muß ich einen Sprich [Strich] durchmachen.
Nun lebe wohl ich umarme Dich und bleibe Dein Krl.
Bleibe mir mit unserm Bub gesund.
Vergiss nicht, die Stagma-Nachrichten mir bald zu senden. Rufe Adolf mal an!! Den Brief an Baden-Baden habe ich schon weitergesandt.