ohne Datum, Wien (Brief): E.H in München

Meine liebe Elisabeth,

nun bin ich schon etliche Zeit hier, meiner Hochstimmung ist noch immer keine Ernüchterung erfolgt. Webern hat zur Zeit keinen Schüler und ich glaube, es kümmert sich kein Mensch um ihn. Mir kann das nur recht sein, denn er widmet sich mir den ganzen Nachmittag und bei seiner konzentrierten Arbeitsweise ist der Stoff, den wir miteinander bewegen, immens. Drei bis vier Stunden wird jedesmal intensiv gearbeitet. Danach unterhalten wir uns über diesen und jenen Komponisten, dann wertet er, stellt Theorieren [sic] über die Zukunft der Musik auf und ähnliches. Wir haben meinen „Simplicius“ und meine 1. Symphonie durchgesprochen; er ging dabei bis in die kleinsten Verästelungen von Form und Thematik. Dann analysierten wir klassische Werke – Beethoven Sonate op. 2 Nr. 3 und ein Streichquartett von Reger. Reger schätzt er hoch und es macht viel Freude, mit ihm das fis-moll Streichquartett zu zergliedern. Dabei kommt er mir vor wie ein Gelehrter, der unter der Lupe ein Insekt seziert und sich an den Flügeläderungen und dem Facettenauge erfreut. So sehr mir seine Einschätzung Regers einleuchtet, so wenig stimme ich seiner Ablehnung Bruckners zu. Er glaubt nicht, daß Bruckner für die Entwicklung der Musik etwas geleistet hat. Ist denn Bruckner so weit von seinem geliebten Mahler entfernt? Sein Verhältnis zu Strauß steht im Schatten seiner Liebe zu Mahler, und er hat mich überzeugt, daß Mahler für uns wichtiger und richtungsgebender ist als Strauß. Ich kann mich zwar nicht so entschieden auf einen der beiden festlegen. Aber am Ende kommt Mahler auch meinen Absichten weiter entgegen als der Programmdichter Strauß. Riesig freute mich, daß er Scherchen für den besten Dirigenten seiner Werke hält. Kein Wunder bei ihrer Ähnlichkeit, ihrer Aufgeschlossenheit für das Neue und ihrer Bereitschaft, uns Junge zu fördern. Webern läßt nie fühlen, daß er der Lehrer ist. Sein Temperament ist ausgeglichen, beherrscht und liebenswürdig. Es ist jedesmal eine Zeremonie, auf die ich mich schon freue, wenn er sorgfältig die Schublade aufzieht, eine Mappe hervorholt, diese auf die Komodenplatte [sic] legt, dann aufschlägt, durchblättert, ihr ein Blatt – die gesuchte Analyse – entnimmt, die Mappe schließt, sorgsam beiseite legt und nach getanem Werk alle Verrichtungen im Krebskanon wieder rückwärts aneinanderreiht, mit unbeirrter Sorgsamkeit. Jede seiner Kompositionen ist mit peinlich genauen Analysen und mit den Abwandlungen der Reihe versehen. Er stellt mit mir präzise Untersuchungen über Rhythmik, Melodik und Thematik seiner Werke an, wobei er der Thematik den größten Raum gibt. Besonders eingehend besprachen wir heute seine Klaviervariationen op. 27, die ich analysieren mußte. Ein Klangwunder sind diese Variationen, von höchster Konstruktion. Er legt den drei Sätzen eine Zwölftonreihe (es, h, b, d, cis, c, fis, e, g, f, a, gis) mit ihren 4 Grundformen und den 12 Transpositionen zugrunde. Dadurch erhält das Werk einen konstruktiven Zusammenhalt, in dem jede Note ein wohlkalkuliertes Glied innerhalb der Kanons und Variationen bildet. Könnte ich doch über den Aufbau dieser Zopfgeflechte hinaus erfahren, wie er es anstellt und worauf es beruht, daß seine Musik den göttlichen Hauch enthält. [fehlt S. 3] Neulich sagte er mir in aller Treuherzigkeit: „Meine Melodien wird noch einmal der Briefträger pfeifen!“ Ich glaube zwar eher, daß der Briefträger auf seine Melodien pfeifen wird. Zumindest wird der Briefträger ihm die Post der Bewunderer aus aller Welt zu bringen haben, was immer er auch dabei pfeift. In ruhiger und unaufdringlicher Weise findet er Worte für seine Berufung und die Stellung seines Werkes in der Musikgeschichte. Die Ungunst der derzeitigen äußeren Umstände berührt ihn dabei nicht. Die Webernschen scheinen eine gute Ehe zu führen, wobei seine Frau wenig Anteil an seiner Arbeit nimmt und fast ausschließlich an ihre Kinder denkt. Ich habe den Eindruck, daß sie sich über die Bedeutung ihres Mannes nicht im klaren ist. Er dagegen kümmert sich in seiner peniblen Art auch um den Haushalt und übt auf das kleine Hauswesen einen patriarchalischen Einfluß aus. Als ich kürzlich etwas Straßennässe in sein Zimmer getragen hatte, begann der Unterricht nicht, bevor nicht alles sorgfältig aufgewischt war. Du kannst Dir vorstellen, mit welchem Gesicht ich dastand, während er mir mit dem Wischlappen zwischen den Beinen herumfuhr. Am Ende lerne ich bei ihm nicht nur das Winden kompositorischer Zopfgeflechte, sondern werde überhaupt noch ein ordentlicher Mensch.

  • Year
  • Oktober/November 1942