ohne Datum, Wien (Brief): E.H. in München

Meine allerliebste Elisabeth,

ich warte so sehr auf Dich – warum bist Du bis jetzt nicht gekommen. Hier in Wien ist ein Musikfest und ich will Dir darüber berichten; aber dies ist mein letzter Brief vor Deinem Kommen. Ich freue mich!! Gestern war ich mit Webern in der Staatsoper und dachte mit viel Sehnsucht an die schönen Feste der IGNM in Prag, Paris und London, wo ich das „German independent“ vertrat. Die Bühne in der Staatsoper war überladen ausgestattet und kompensierte die Ärmlichkeit der Musik. Stell Dir einmal vor, ein zeitgenössisches Musikfest in Wien ohne Schönberg Berg und Webern, eine Veranstaltung, in der Webern leibhaftig, doch wie ein Gespenst umgeht, das keiner sieht und keiner kennt. Ich muß froh sein, daß mich niemand zur Teilnahme aufgefordert hat, denn dann wäre ich mir wie ein Verräter vorgekommen. Webern wird weder zu einer Aufführung, noch zu anderen Feierlichkeiten, geschweige denn zum Empfang des Statthalters eingeladen. In der Oper erkannte ihn keiner der anwesenden Komponisten, die hätten es auch gar nicht der Mühe wert gefunden, seine Bekanntschaft zu suchen. Wir, Webern, Apostel und ich, gingen als Fremde im Theater um her und konnten uns mit Recht als Ausgestossene fühlen. Webern trug es zunächst mit Gleichmut und wirkte unbeteiligt. Doch in der Pause erlebte ich seine eine einzige Auflehnung. Fast aufgelöst eilte er mir im Foyer entgegen und begann, ohne Rücksicht auf die Umstehenden, seinem Herzen Luft zu machen. Wie ein Rasender belegte er, der sich sonst nur gebildet und gesetzt aussprach, die aufgeführte Musik mit alttestamentarischen Flüchen und verdammte alle Plattheit und Pseudomodernität, die sich hier ausbreitete. Es war schmerzhaft und erlösend, wie er unter der Dummheit dieser Musik von Egk und Orff litt und darüber endlich einmal seine Verhaltenheit aufgab. Heute Nachmittag wurde kein Wort mehr von dem gestrigen Theaterabend gesprochen, wir arbeiteten an Analysen und dabei fühle ich, daß er mir besonders zugetan ist. Wie viel wert ist mir diese Zuneigung und wie erwidere ich sie! Am Schluß der Lektion hatte ich noch ein paar Fragen über Schönbergs „Erwartung“. Ich hatte die Partitur mitgenommen und schlug sie auf, obwohl ich Webern mit meinen Fragen genugsam ermüdet hatte. Unvorhergesehen ergab sich daraus ein langes Gespräch. In seinem Verlauf wurde er immer gelöster und entflammter und sprach schließlich so glühend über dieses Werk, dass ich mir vorkommen konnte wie derjenige, den Vergil durch Himmel und Hölle führte. Er begann das Werk vor mir zu entfalten, hob zuerst ein paar Töne hervor, die ein großes, unbestimmtes Gefühl zum Ausdruck bringen und eine wunderbare Architektur offenbaren. Im weiteren Verlauf zeigte er, wie das Werk nach allen Richtungen organisch wächst, bis es seine volle Gestalt gewonnen hat, und ich ahnte etwas von dem Schaffensrausch, der Schönberg ergriffen haben möchte [sic]. Das war seine Festaufführung als Antwort auf den abgeschmackten Vorabend. Ich bringe den Brief heute noch zum Bahnhof, damit Du bald diesen Brief bekommst. Lebe wohl mein Allerbestes, einen festen Kuß für Richardl und auf Wiedersehen! Hoffentlich bald!!! Immer Dein Karl Amadeus.

  • Jahr
  • Oktober/November 1942