ohne Datum, Wien (Brief): E.H. in München

Meine Liebe!

Es ist abends, ich bin in mein Zimmer zurückgekehrt und will Dir gleich von meinem ersten Besuch bei Webern erzählen. Nachdem ich gestern ein Hotelzimmer gefunden, meine Sachen untergebracht und eine Nacht mit Erwartungsträumen durchschlafen hatte, fuhr ich heut Früh mit der Stadtbahn nach Maria-Enzersdorf, einem hübschen kleinen Weinort. Ich hatte zwar Weberns Anschrift notiert, versuchte aber sein Haus unter den anderen „sympathetisch“ herauszufinden. Du kennst das Spiel und weißt, wie sehr man daher auf den Holzweg geraten kann. Von etwas glücklicher Hellsicht geleitet, stand ich bald ohne viel Umschweife davor, obgleich es unauffällig ist, ein unscheinbares Einzelhaus in einer Villenstraße. Auch darin hatte mich meine geschärfte Erwartung nicht getäuscht – ich hatte nämlich das Gefühl, niemanden anzutreffen, und so verhielt es sich tätsächlich [sic]. Was blieb mir, als ein Spaziergang in die Umgebung, die ich freilich vor lauter imaginierter Gespräche mit Webern kaum wahrnahm: „Ach da sind Sie ja, lieber Hartmann, Scherchen und mein Astrologe hat mir Sie lange vorhergesagt und ich brenne darauf, Ihre Opern und Symphonien zu sehen und zu erfahren, welchen Weg die Musik im kommenden Jahrhundert nimmt!“ In meinen Selbstgesprächen kam ich wieder am Hause vorbei, da werkelte jemand im Garten und ich konnte annehmen, daß es Webern war. Obgleich ich durch die Gartentür eingetreten war, mit den Füßen scharrte und hüstelte, beachtete er mich zunächst überhaupt nicht und in mir keimte der Argwohn, daß ich mich in meinem vorweggenommenen Begrüßungsszenen ein wenig zu weit von der Wirklichkeit entfernt hatte. Schließlich trat ich zu ihm und er bemerkte mich endlich, entsann sich meines Briefes und lud mich freundlich ins Haus ein. Dort brachte ich erneut mein Anliegen vor, erklärte ihm, wo mir [mich] der Schuh drückt und was ich von seinen Unterweisungen erhoffte. Er ging darauf ein und schlug vor, daß wir außerdem klassische Werke so wie einige seiner Arbeiten analysieren wollen. Als seine Frau dazukam [sic] wurde die Unterhaltung allgemeiner, wir berichteten von unseren Familien und ich erfuhr, daß ihre Töchter verheiratet sind. Während er nur bürgerlich wirkt, hat man den Eindruck, daß seine Frau es zutiefst ist, und zwar im schlichtesten Sinne. Nicht ohne meine Schuld kehrte das Gespräch immer wieder zur Politik zurück. Ich hätte es nicht dorthin lenken [sollen], denn da erfuhr ich Dinge, die ich mit meinem starken Hang zum Anarchismus lieber nicht gehört hätte. Er vertrat nämlich ernstlich die Meinung, daß um der lieben Ordnung willen eine jede Obrigkeit respektiert werden müße [sic] und der Staat, in dem man lebt, im jeden Preis anzuerkennen sei. Er rauchte dabei mit Behagen seine Zigarre und ich hatte meine Not, an mich zu halten und nicht despektierlich zu werden. Sein Wohlwollen gegenüber denjenigen, die ihn an die Wand drücken, ist mir unbegreiflich, aber ich bin ja nicht hergekommen, um ihn weltanschaulich zu ergründen. Als ich ihn endlich verließ, war es Abend geworden. Ich stürmte in die Dunkelheit hinaus und war noch recht bewegt von den Gesprächen, „der Hut fiel mir vom Kopfe“! Um mich wieder zu neutralisieren, ging ich in ein Kino. Aber dort gabs neue Aufregung. Da hatte sich einer seine Frau gar schwer zu erkämpfen, und was meinst Du wohl, an wen ich dabei erinnert wurde! Ich unarme Dich sehr innig und auch den [sic] kleinen Richard einen festen Kuß, ich bleibe stets Euer Karl Amadeus.

  • Jahr
  • Oktober/November 1942