I
Es ist abends, ich bin in mein Zimmer zurückgekehrt und will Dir gleich von meinem ersten Besuch bei Webern erzählen. Nachdem ich gestern ein Hotelzimmer gefunden, meine Sachen untergebracht und die Nacht mit Erwartungsträumen durchschlafen hatte, fuhr ich heute früh mit der Stadtbahn nach Maria Enzersdorf, einem hübschen kleinen Weinort. Ich hatte zwar Weberns Anschrift notiert, versuchte aber sein Haus unter den anderen „sympathetisch“ herauszufinden. Du kennst das Spiel und weißt, wie sehr man dabei auf den Holzweg geraten kann. Von etwas glücklicher Hellsicht geleitet, stand ich bald ohne viel Umschweife davor, obgleich es unauffällig ist, ein unscheinbares Einzelhaus in einer Villenstraße.
Auch darin hatte mich meine geschärfte Erwartung nicht getäuscht – ich hatte nämlich das Gefühl, niemanden anzutreffen, und so verhielt es sich tatsächlich. Was blieb mir, als ein Spaziergang in die Umgebung, die ich freilich vor lauter imaginierter Gespräche mit Webern kaum wahrnahm: „Ach da sind Sie ja, lieber Hartmann, Scherchen und mein Astrologe hat mir Sie lange vorhergesagt und ich brenne darauf, Ihre Opern und Symphonien zu sehen und zu erfahren, welchen Weg die Musik im kommenden Jahrhundert nimmt!“
In meinen Selbstgesprächen kam ich wieder am Hause vorbei, da werkelte jemand im Garten und ich konnte annehmen, daß es Webern war. Obgleich ich durch die Gartentür eingetreten war, mit den Füßen scharrte und hüstelte, beachtete er mich zunächst nicht und in mir keimte der Argwohn, daß ich mich in meinen vorweggenommenen Begrüßungsszenen ein wenig zu weit von der Wirklichkeit entfernt hatte.
Schließlich trat ich zu ihm und er bemerkte mich endlich, entsann sich meines Briefes und lud mich freundlich ins Haus ein. Dort brachte ich erneut mein Anliegen vor, erklärte ihm, wo mich der Schuh drückt und was ich von seinen Unterweisungen erhoffte. Er ging darauf ein und schlug vor, daß wir außerdem klassische Werke sowie einige seiner Arbeiten analysieren wollen. Als seine Frau dazu kam, wurde die Unterhaltung allgemeiner, wir berichteten von unseren Familien und ich erfuhr, daß ihre Töchter verheiratet sind. Während er nur bürgerlich wirkt, hat man den Eindruck, daß seine Frau es zutiefst ist, und zwar im schlichtesten Sinne.
Nicht ohne meine Schuld kehrte das Gespräch immer wieder zur Politik zurück. Ich hätte es nicht dorthin lenken sollen, denn da erfuhr ich Dinge, die ich mit meinem starken Hang zum Anarchismus lieber nicht gehört hätte. Er vertrat nämlich ernstlich die Meinung, daß um der lieben Ordnung willen eine jede Obrigkeit respektiert werden müsse und der Staat, in dem man lebt, um jeden Preis anzuerkennen sei. Er rauchte dabei mit Behagen seine Zigarre und ich hatte meine Not, an mich zu halten und nicht despektierlich zu werden. Sein Wohlwollen gegenüber denjenigen, die ihn an die Wand drücken, ist mir unbegreiflich, aber ich bin ja nicht hergekommen, um ihn weltanschaulich zu ergründen. Als ich ihn endlich verließ, war es Abend geworden. Ich stürmte in die Dunkelheit hinaus und war noch recht bewegt von den Gesprächen, „der Hut fiel mir vom Kopfe“! Um mich wieder zu neutralisieren, ging ich in ein Kino. Aber dort gab’s neue Aufregung. Da hatte sich einer seine Frau gar schwer zu erkämpfen, und was meinst Du wohl, an wen ich dabei erinnert wurde!
II
Inzwischen war ich mehrmals bei Webern. Der Unterricht läßt sich versprechend an und ich lebe auf.
Du wirst fragen, wie sieht er aus? Daß Webern wie ein kleiner Beamter aussieht, kann nur der auf sich nehmen, der ihn nicht gesehen hat. Freilich macht er auf Gruppenfotos eine unscheinbare und bürgerliche Figur. Dabei ist er gerade unter den unbürgerlichen Köpfen der Nichtbürger, denn er stammt aus einer alten Adelsfamilie. Wenn Du aber – mit Recht – einwendest, daß hier nicht der Adelsmann sondern der Abenteurer als bürgerlicher Gegenspieler gilt, muß ich erwidern: Die Abenteuerlichkeit von Weberns Existenz bleibt auch hinter der eines genialischen Wirrkopfes nicht zurück, nur daß sie sich ausschließlicher im Werk niederschlägt und nicht auf dem Wege dorthin in Allüren und Bedeutungsmienen steckenbleibt. Dezenz und Unauffälligkeit der Erscheinung ist ja seit Richard Wagner in Künstlerkreisen nicht gefragt, und es sind schon weiße Raben, die sich ihrer befleißigen. Außer Webern fällt mir nur Paul Klee ein, von der Novellenfigur Tonio Kröger einmal abgesehen. Obgleich sich Webern literarisch umtut und wahrscheinlich auch Klee persönlich kennt- ich muß ihn danach einmal fragen -, ist seine bürgerliche Mimikry doch ein eigenständiger Zug. Das soll nicht sagen, daß er sich von Leitbildern immer freigehalten habe und daß nicht doch mancher Zug eines Vorbildes bis in sein Äußeres gedrungen sei. Ich denke dabei nicht an Schönberg, der fast gleichaltrig ist und dessen persönlicher ungezwungener Umgang die idolhafte Vergrößerung nahezu ausschloß. Mir schwebt vielmehr Gustav Mahler vor, den zu rühmen er keine Gelegenheit ausläßt. Ich bilde mir ein, daß Webern von dem vogelhaft bebrillten Typus Mahlers etwas mitgeprägt ist. Aber der Gustav-Mahler-Aufblick und die Bürgermiene sind, wie ich ihn jetzt kenne, nur noch Grundierung seiner Züge, die nur fur den Kenner der früheren Porträts durchschimmert. Zuoberst trägt er jetzt eine etwas verwitterte Leidens- und Entsagungsmiene, die ergreifend ist, besonders wenn sie sich in einer freundlichen Aufwallung erhellt. Wie ich Dir schon schrieb, traf ich ihn zuerst bei Gartenarbeiten. Die betreibt er, wie ich inzwischen erfahren habe, nicht als Ausgleichssport oder gar um der Gemüseernte willen, sondern aus Hingabe an Goethes Metamorphose der Pflanzen. Er hat es mir beiläufig erklart, doch es ging mir ein wenig über den Kopf und ich kann den Verdacht nicht loswerden, daß es sich dabei um eine Grille handelt.
Er ist kleiner als man ihn sich vom Bild her vorstellt. Bei der ersten Begegnung, als er das Gartengerät ablegte und mich ins Haus geleitete, stand schon einige Kühle und sachliche Strenge in seinem Gesicht. Als ich mich vorgestellt hatte, löste sich das sogleich und wich einem angenehmen wienerisch gefärbten Entgegenkommen. Dabei geht viel Charme und Bedeutung von ihm aus, ohne daß er lärmend wirkt oder irgendeine Pose entfaltet. Sieht man von der Brille ab, die ja jedem Gesicht leicht etwas Strenges gibt, so entwickelt er eine herzerwärmende Freundlichkeit, etwa wenn er sagt: „Ach Hartmann, Sie sind da, herzlich willkommen!“
Sein Gesicht ist hager, er hat eine scharfe, gerade unter dem metallenen Brillenbügel hervorstechende Nase. Die Brille, ich komme nicht von ihr los, ist von rührender Schlichtheit, was das Gestell betrifft und unterstreicht, was man längst von ihm weiß, daß seine Ansprüche nicht auf das Äußere gerichtet sind. Der Mund ist immerhin etwas schmallippig, dessen Stoff nicht Winkelgrade und Logarithmen sind, sondern Flöte und Geige. Aber das paßt vielleicht nicht schlecht zu seiner Reihenalgebra, die ich ihm ja auch lieber absehen möchte, als Oboenschmachten und Geigenschmelz.
III
Nun bin ich schon etliche Zeit hier, meiner Hochstimmung ist noch immer keine Ernüchterung gefolgt.
Webern hat zur Zeit keinen Schüler, und ich glaube, es kümmert sich kein Mensch um ihn. Mir kann das nur recht sein, denn er widmet sich mir den ganzen Nachmittag und bei seiner konzentrierten Arbeitsweise ist der Stoff, den wir miteinander bewegen, immens. Drei bis vier Stunden wird jedesmal intensiv gearbeitet. Danach unterhalten wir uns über diesen oder jenen Komponisten, dann wertet er, stellt Theorien über die Zukunft der Musik auf und ähnliches. Wir haben meinen „Simplicius“ und meine 1. Symphonie durchgesprochen; er ging dabei bis in die kleinsten Verastelungen von Form und Thematik. Dann analysierten wir klassische Werke – Beethovens Sonate op. 2 Nr. 3 und ein Streichquartett von Reger. Reger schätzt er hoch und es macht viel Freude, mit ihm das fis-Moll-Streichquartett zu zergliedern. Dabei kommt er mir vor wie ein Gelehrter, der unter der Lupe ein Insekt seziert und sich an den Flügeläderungen und dem Facettenauge erfreut. So sehr mir seine Einschätzung Regers einleuchtet, so wenig stimme ich seiner Ablehnung Bruckners zu. Er glaubt nicht, daß Bruckner für die Entwicklung der Musik etwas geleistet hat. Ist denn Bruckner so weit von seinem geliebten Mahler entfernt?
Sein Verhaltnis zu Strauss steht im Schatten seiner Liebe zu Mahler, und er hat mich überzeugt, daß Mahler für uns wichtiger und richtungsgebender ist als Strauss. Ich kann mich zwar nicht so entschieden auf einen der beiden festlegen. Aber am Ende kommt Mahler auch meinen Absichten weiter entgegen als der Programmdichter Strauss.
Riesig freute mich, daß er Scherchen für den besten Dirigenten seiner Werke hält. Kein Wunder bei ihrer Ähnlichkeit, ihrer Aufgeschlossenheit für das Neue und ihrer Bereitschaft, uns Junge zu fördern.
Webern läßt nie fühlen, daß er der Lehrer ist. Sein Temperament ist ausgeglichen, beherrscht und liebenswürdig. Es ist jedesmal eine Zeremonie, auf die ich mich schon freue, wenn er sorgfältig die Schublade aufzieht, eine Mappe hervorholt, diese auf die Kommodenplatte legt, dann aufschlägt, durchblättert, ihr ein Blatt – die gesuchte Analyse – entnimmt, die Mappe schließt, sorgsam beiseite legt und nach getanem Werk alle Verrichtungen im Krebskanon wieder rückwärts aneinanderreibt, mit unbeirrter Sorgsamkeit.
Jede seiner Kompositionen ist mit peinlich genauen Analysen und mit den Abwandlungen der Reihe versehen. Er stellt mit mir präzise Untersuchungen über Rhythmik, Melodik und Thematik seiner Werke an, wobei er der Thematik den größten Raum gibt. Besonders eingehend besprachen wir heute seine Klaviervariationen op. 27, die ich analysieren mußte.
Ein Klangwunder sind diese Variationen, von höchster Konstruktion. Er legt den drei Sätzen eine Zwölftonreihe (es, h, b, d, cis, c, fis, e, g, f, a, gis) mit ihren vier Grundformen und den 12 Transpositionen zugrunde. Dadurch erhält das Werk einen konstruktiven Zusammenhalt, in dem jede Note ein wohlkalkuliertes Glied innerhalb der Kanons und Variationen bildet.
Könnte ich doch über den Aufbau dieser Zopfgeflechte hinaus erfahren, wie er es anstellt und worauf es beruht, daß seine Musik göttlichen Hauch enthält!
Neulich sagte er mir in aller Treuherzigkeit: „Meine Melodien wird noch einmal der Briefträger pfeifen!“
Ich glaube zwar eher, daß der Briefträger auf seine Melodien pfeifen wird. Zumindest wird der Briefträger ihm die Post der Bewunderer aus aller Welt zu bringen haben, was immer er auch dabei pfeift.
In ruhiger und unaufdringlicher Weise findet er Worte für seine Berufung und die Stellung seines Werkes in der Musikgeschichte. Die Ungunst der derzeitigen äußeren Umstände berührt ihn dabei nicht.
Die Webernschen scheinen eine gute Ehe zu führen, wobei seine Frau wenig Anteil an seiner Arbeit nimmt und fast ausschließlich an ihre Kinder denkt. Ich habe den Eindruck, daß sie sich über die Bedeutung ihres Mannes nicht im klaren ist. Er dagegen kümmert sich in seiner peniblen Art auch um den Haushalt und übt auf das kleine Hauswesen einen patriarchalischen Einfluß aus. Als ich kürzlich etwas Straßennässe in sein Zimmer getragen hatte, begann der Unterricht nicht, bevor nicht alles sorgfältig aufgewischt war. Du kannst Dir vorstellen, mit welchem Gesicht ich dastand, während er mir mit dem Wischlappen zwischen den Beinen herumfuhr. Am Ende lerne ich bei ihm nicht nur das Winden kompositorischer Zopfgeflechte, sondern werde überhaupt noch ein ordentlicher Mensch.
IV
Hier in Wien ist ein Musikfest und ich will Dir darüber berichten.
Gestern war ich mit Webern in der Staatsoper und dachte mit viel Sehnsucht an die schönen Feste der IGNM in Prag, Paris und London, wo ich das „German independant“ vertrat.
Die Bühne in der Staatsoper war überladen ausgestattet und kompensierte die Ärmlichkeit der Musik. Stell Dir einmal vor, ein zeitgenössisches Musikfest in Wien ohne Schönberg, Berg und Webern, eine Veranstaltung, in der Webern leibhaftig, doch wie ein Gespenst umgeht, das keiner sieht und keiner kennt. Ich muß froh sein, daß mich niemand zur Teilnahme aufgefordert hat, denn dann wäre ich mir wie ein Verräter vorgekommen.
Webern wird weder zu einer Aufführung, noch zu anderen Feierlichkeiten, geschweige denn zum Empfang des Statthalters eingeladen. In der Oper erkannte ihn keiner der anwesenden Komponisten, sie hatten es auch gar nicht der Mühe wert gefunden, seine Bekanntschaft zu suchen. Wir, Webern, Erich Apostel und ich, gingen als Fremde im Theater umher und konnten uns mit Recht als Ausgestoßene fühlen. Webern trug es zunächst mit Gleichmut und wirkte unbeteiligt. Doch in der Pause erlebte ich seine einzige Auflehnung. Fast aufgelöst eilte er mir im Foyer entgegen und begann, ohne Rücksicht auf die Umstehenden, seinem Herzen Luft zu machen. Wie ein Rasender belegte er, der sich sonst nur gebildet und gesetzt ausdrückte, die aufgeführte Musik mit alttestamentarischen Flüchen und verdammte alle Plattheit und Pseudomodernität, die sich hier ausbreitete. Es war schmerzhaft und erlösend, wie er unter der Dummheit dieser Musik litt und darüber endlich einmal seine Verhaltenheit aufgab.
Heute Nachmittag wurde kein Wort mehr von dem gestrigen Theaterabend gesprochen, wir arbeiteten an Analysen und dabei fühlte ich, daß er mir besonders zugetan ist. Wie viel wert ist mir diese Zuneigung und wie erwidere ich sie!
Am Schluß der Lektion hatte ich noch ein paar Fragen über Schönbergs „Erwartung“. Ich hatte die Partitur mitgenommen und schlug sie auf, obwohl ich Webern mit meinen Fragen genügsam ermüdet hatte. Unvorhergesehen ergab sich daraus ein langes Gespräch. In seinem Verlauf wurde er immer gelöster und entflammter und sprach schließlich so glühend über dieses Werk, daß ich mir vorkommen konnte wie derjenige, den Vergil durch Himmel und Hölle führte. Er begann das Werk vor mir zu entfalten, hob zuerst ein paar Töne hervor, die ein großes, unbestimmtes Gefühl zum Ausdruck bringen und eine wunderbare Architektur offenbaren. Im weiteren Verlauf zeigte er, wie das Werk nach allen Richtungen organisch wächst, bis es seine volle Gestalt gewonnen hat, und ich ahnte etwas von dem Schaffensrausch, der Schönberg ergriffen haben mochte.
Das war seine Festaufführung als Antwort auf den abgeschmackten Vorabend.