ERINNERUNGEN HARTMANNS AN OPERNERLEBNISSE WÄHREND SEINER STUDIENZEIT

Kleine Schriften, S. 17-20

Erinnerungen

Für jeden Menschen, der das Geschäft der Kunst betreibt, ist es entscheidend, woran sich sein Begriff von Größe und Vollkommenheit bildet. Wirken verschiedenartige Vorbilder zusammen, um so besser; er ist desto weniger einseitig festgelegt. Wenn ich an meine Studienjahre in München zurückdenke, sehe ich zuerst die hochragende Gestalt von Richard Strauss vor mir. Ich sehe ihn, wie er sich als unerschütterlicher Grandseigneur zu seinem 60. Geburtstag im Odeonsaal mit bemerkenswerter Seelenruhe feiern läßt. Wie er sich im Jubel des Publikums dem Staatsorchester zuwendet und den Taktstock zu seinem „Don Juan“ hebt. Ich selbst befand mich als Akademieschüler unter den Choristen und konnte seine Gelassenheit aus unmittelbarer Nähe anstaunen. Dann sehe ich ihn am Dirigentenpult unseres im Krieg vernichteten alten Nationaltheaters seine „Elektra“ dirigieren, wobei es eigentlich wenig genug zu sehen gab, denn er dirigierte sparsam und mit nüchterner Genauigkeit. Aber man spürte in jedem Takt die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit; es genügte, daß ein halb erwartender, halb ermunternder Blick seiner hellen Augen die Musiker oder Sänger streifte. Auf der Bühne befanden sich die namhaftesten Solisten der damaligen Zeit, besonders Frau Anna Bahr-Mildenburgs Klytamnestra kann ich nicht vergessen. Sie erfüllte ihre Rolle mit grauenerregender Dämonie. Straussens Dynamik war so ausgewogen, daß die Kantilenen aus den ungeheuersten Klangemotionen des Orchesters immer wieder leuchtend heraustraten. Erst gegen das Ende zu berauschte sich der kühl disponierende Dirigent an seiner eigenen Musik, etwa, wenn er mit einer einzigen ausholenden Bewegung zum großen Bogen der Finalesteigerung ansetzte. Ich kann mich nicht entsinnen, daß sich mir je das Wunderwerk der Elektra-Partitur mit seinen exaltierten und nervösen musikalischen Konstruktionen in ähnlicher Klarheit und Größe offenbart hatte wie unter seinen Händen.

Nicht minder unvergeßlich bleibt mir Richard Strauss als Mozart-Dirigent. „Cosi fan tutte“, die von ihm besonders geliebte musikalische Komödie, war unter seiner Leitung im Residenztheater immer ein Ereignis. Wie amüsant und prickelnd waren allein schon die Seccorecitative, die er vom Dirigentenpult aus auf dem Spinett voll unnachahmlicher improvisatorischer Laune begleitete. Seiner Vorliebe verdankt dieses Werk überhaupt erst seine Weltgeltung.

Für manche Jungen ist heute Strauss der Inbegriff musikalischer Reaktion. Sie weisen auf die Zeitgenossenschaft des „Sacre“ mit dem Rosenkavalier hin und stehen nicht an, die bedeutende Erscheinung des Komponisten mit dem kunstgewerblichen „dritten Rokoko“ gleichzusetzen, während ich doch meinen möchte, daß sich vor allem Lovis Corinth als Vergleich anbietet. Sie übersehen, daß es eines ebenso großen Aufgebots bedarf, um aus der abgewirtschafteten Tonalität noch einmal letzte Schönheiten hervorzubringen, wie den tonalen Bruch einzuleiten.

Ebenso unberührt vom Wandel der Zeit steht, wenn ich an jene Tage zurückdenke, vor meinem inneren Auge die Erscheinung des frühen Hindemith. Ich war jung und fühlte mich hingerissen von der jugendlichen Kraft seiner aggressivwitzigen Kammermusik Nr. 1, die ich Anfang der zwanziger Jahre im Vierjahreszeitensaal horte, zusammen mit dem Liederzyklus „Die junge Magd“ nach expressionistischen – dunklen und tiefernsten – Gedichten von Georg Trakl. Etwas später sah und hörte ich Hindemith selbst, als er, etwa 1925, in der Galerie (der späteren Carlton-Teestube in der Briennerstraße) mit dem Amar-Quartett eigene Werke spielte, unter anderem die berühmte Bratschen-Solosonate mit dem wildbewegten Prestosatz, den Hindemith auf dem Weg zur Uraufführung im Speisewagen des Schnellzuges Frankfurt-Donaueschingen geschrieben haben soll. Und dann erschien die Oper „Cardillac“ im Nationaltheater. Die phänomenale Aufführung unter Karl Elmendorff, mit Eric Wildhagen als Cardillac, war eine Aufführung von idealer Vollkommenheit. Das sonst neuer Musik gegenüber etwas kühle Münchner Publikum ließ sich zu Ovationen hinreißen.

Das Textbuch ist reich an theatralischer Phantasie und gibt der Musik viel Gelegenheit, sich zu weiten:

Hier hat Hindemith viel dramaturgische Freiheit zu musizieren und schafft eine Integration von Wort und Musik. Der monumentale Orchesteranfang mit dem grandiosen Chorkomplex in stärkster dramatischer Erregung, das Flötenduett der Pantomime, das die Bühnenhandlung nachzeichnet und die Passacaglia im letzten Akt – um nur ein paar Stellen der Oper zu nennen, hinterlassen auf mich bis heute einen tiefen Eindruck. Ich war überwältigt von der Kühnheit und Unbekümmertheit, mit der Paul Hindemith das konzertante Element in die Opernmusik mischte und dabei dennoch eine packende Bühnenhandlung abzuwickeln verstand. Der von der wiedergewonnenen Einsicht in die Größe des Opernschöpfers Händel getragene „Cardillac“ hat mich in seiner expressiven Gedrängtheit ungleich mehr beeindruckt, als die Zeittheatersensation von Kreneks „Jonny spielt auf“. Natürlich handelte es sich um die Urfassung des Cardillac. Was ihm an Unausgegorenem anhaften machte – auch in der expressionistischen Formulierung des Textes -, hängt für mein Gefühl so untrennbar mit dem damaligen Gesamteindruck zusammen, daß ich mich mit der vom Komponisten später vorgenommenen Umarbeitung nicht befreunden konnte, obwohl sie ausgeglichener als die Urfassung sein mag. Aber das sind subjektive Einwände. Für mich repräsentiert die im Lebenswerk Hindemiths sichtbar gewordene Meisterschaft mit ihrer originellen Mischung von Sprödigkeit und Draufgängertum die besten Traditionen deutscher Musikkultur.

  • Dokumenten Nummer
  • V 12
  • Jahr
  • 1919 – 1922